Ein typischer Freitagnachmittag in Essen-Steele: Die Straßen sind verstopft, Feierabendverkehr lärmt in dem immer beliebter werdenden Stadtteil. Bei für den Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen um 30 Grad lässt es sich unter den hohen Bäumen im Garten von Chris und René ganz in der Nähe der Ruhr bestens aushalten. Es gibt ein großes Kräuterbeet, einen ausgedienten 50er Jahre Kühlschrank, einen Grillplatz mit Smoker. Auf dem großen Trampolin finden regelmäßig Sessions mit dem Skateboard statt. Ein Spielplatz für Erwachsene.
Während René im Ruhrgebiet geboren ist, auf Prosper Haniel in Bottrop Bergmechaniker gelernt hat und in der Zeche Bochum seine Jugend verbracht hat, kommt Chris aus München. „Dort hatte ich einen Skate- und Snowboardladen. Vor 15 Jahren bin ich nach Essen gekommen, meine Schwester wohnte schon lange hier und inzwischen ist auch meine Mutter hierher gezogen. In der Zeit hier habe ich so viel mehr coole, ehrliche, offene und herzliche Leute kennengelernt, als in München.“ Er überlegt, „also die 35 Jahre zuvor.“ Auch die auffällige Zahl an der Seite seines Fahrrades weist auf sein Alter: Chris ist Jahrgang ’68, René auch. Aber das spielt keine Rolle.
Als Zugereister ist Chris nicht in seiner Wahlheimat Essen verhaftet: „Ich sehe das hier als eine große Stadt. Ich bin ständig unterwegs. Wenn ich ÖPNV fahre, habe ich mein Skateboard dabei. Eigentlich habe ich immer mein Skateboard dabei, wenn ich nicht gerade Fahrrad fahre. Sehr gerne bin ich in der Dortmunder City, dort wo die ganzen internationalen Imbisse sind. Das ist genial.“
Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick wirken die beiden wie Brüder – die Outfits, Bärte, Tattos und Brillen eingeschlossen. Einen Unterschied gibt es aber doch: René ist ruhiger. „Aber nur bis er dich besser kennt“, lacht Chris. „Wir haben uns durch eine gemeinsame Freundin kennengelernt. Und das war es dann. Wann das mit den Fahrrädern genau angefangen hat, kann ich gar nicht genau sagen.“ Chris führt uns über einen typischen betonierten Hinterhof zur Garage, die als Werkstatt und als Lager dient.
In der Garage stehen, liegen und hängen verschiedene unfertige Fahrräder, unbearbeitete Fahrradrahmen und -körper, Bleche, Drähte, undefinierbare Teile, Sammlerstücke aus fast 80 Jahrzehnten. Für Technik-Nerds wie diese beiden das Paradies. Chris erklärt: „Wir arbeiten mit verschiedenen Übersetzungsarten. Man kann einen herkömmlichen Fahrradrahmen einfach umdrehen und mit der Gabel und der Hinterradnabe verbinden. Oder wir schweissen einen Rahmen aus verschiedenen Materialien zusammen, z. B. aus einer Mofa oder aus Teilen eines alten Miniquad. Die besten Rahmen sind aus einem Guss.“
Angetrieben werden die Fahrräder von Gimbal Motoren, die nahezu unsichtbar in die Narbe des Hinter- oder Vorderrades eingebaut sind. Auf dem kurzen Weg zur Fotosession an der Ruhr demonstriert uns René die lautlose Schubkraft seines Fahrrades im beeindruckenden Cortenstahllook. Und dann biegt er rechts ab und ist verschwunden. Chris zeigt uns den Weg. Es geht wenige Schritte unter das riesige Dach zweier gigantischer Bäume. Von außen kann niemand sehen, was hier vorgeht. Die Sonne scheint zwar durch das Blätterdach. Aber insgesamt ist es ziemlich dunkel.
Chris und René lehnen ihre Fahrräder an den Baum und wir schauen genauer hin. Ist es Zufall, dass Renés Fahrrad einen braunen Körper und schwarze Reifen hat und Chris‘ Fahrrad entgegengesetzt gestylt ist? Bei genauem Hinsehen bleibt hier nichts dem Zufall überlassen: Eine alte Schaufel dient als Sattel, die Fahrradkette ist lila lackiert.
Neben den funktionalen Teilen sind die Fahrräder mit zahlreichen Dekoelementen versehen: ein Peugeot-Löwe von 1955 dient auch hier als Kühlerfigur auf dem Rahmen, eine alte Beleuchtung eines Überlandfahrzeuges von 1936 wird zur Hupe, der Ventilverschluss am Hinterrad ist mit einer lilafarbenen Minihandgranate aus Plastik verziert.
Jedes verbaute und verschweisste Teil ist ein Statement und zugleich widerstrebt es den beiden Fahrradbauern, ihre Arbeit mit vielen Worten zu kommentieren. Chris erklärt dazu: „Die Fahrräder müssen flashy aussehen, sie müssen überraschen.“ Und damit hat er eigentlich alles gesagt.
Die unverkäuflichen Fahrräder sind urban und absolut smart. Ihre Erbauer sind es ebenso. „Und obwohl hier so viele schräge Typen unterwegs sind,“ erzählt Chris abschließend, „schauen die Leute immer erschrocken bis überrascht, wenn ich im Business-Outfit, also im schwarzen Anzug, auf dem Skateboard unterwegs bin“.
[Text und Fotos: Silke König]
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